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Johann Wolfgang Goethe „Alemannische Gedichte“

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Johann Wolfgang Goethe „Alemannische Gedichte“

  • Johann Wolfgang Goethe: Alemannische Gedichte. Für Freunde ländlicher Natur und Sitten, von J. P. Hebel, Professor zu Karlsruhe. Karlsruhe, bei Macklot. Zweite Auflage 1804. VIII und 232 S. 8°
  • Eerschtdruck: Allgemeine Literaturzeitung (Jena), Nr. 37, vom 13. Febr. 1805. S. 289−294 Digitalisat

Alemannische Gedichte

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Der Verfasser dieser Gedichte, die in einem oberdeutschen Dialekt geschrieben sind, ist im Begriff, sich einen eignen Platz auf dem deutschen Parnaß zu erwerben. Sein Talent neigt sich gegen zwei entgegengesetzte Seiten. An der einen beobachtet er mit frischem, frohem Blick die Gegenstände der Natur, die in einem festen Dasein, Wachstum und Bewegung ihr Leben aussprechen und die wir gewöhnlich leblos zu nennen pflegen, und nähert sich der beschreibenden Poesie; doch weiß er durch glückliche Personifikationen seine Darstellung auf eine höhere Stufe der Kunst heraufzuheben. An der andern Seite neigt er sich zum Sittlich-Didaktischen und zum Allegorischen; aber auch hier kommt ihm jene Personifikation zu Hülfe, und wie er dort für seine Körper einen Geist fand, so findet er hier für seine Geister einen Körper. Dies gelingt ihm nicht durchaus; aber wo es ihm gelingt, sind seine Arbeiten vortrefflich, und nach unserer Überzeugung verdient der größte Teil dieses Lob.

Wenn antike oder andere durch plastischen Kunstgeschmack gebildete Dichter das sogenannte Leblose durch idealische Figuren beleben und höhere, göttergleiche Naturen,[365] als Nymphen, Dryaden und Hamadryaden, an die Stelle der Felsen, Quellen, Bäume setzen, so verwandelt der Verfasser diese Naturgegenstände zu Landleuten und verbauert auf die naivste, anmutigste Weise durchaus das Universum; so daß die Landschaft, in der man denn doch den Landmann immer erblickt, mit ihm in unserer erhöhten und erheiterten Phantasie nur eins auszumachen scheint.

Das Lokal ist dem Dichter äußerst günstig. Er hält sich besonders in dem Landwinkel auf, den der bei Basel gegen Norden sich wendende Rhein macht. Heiterkeit des Himmels, Fruchtbarkeit der Erde, Mannigfaltigkeit der Gegend, Lebendigkeit des Wassers, Behaglichkeit der Menschen, Geschwätzigkeit und Darstellungsgabe, zudringliche Gesprächsformen, neckische Sprachweise, so viel steht ihm zu Gebot, um das, was ihm sein Talent eingibt, auszuführen.

Gleich das erste Gedicht enthält einen sehr artigen Anthropomorphism. Ein kleiner Fluß, »die Wiese« genannt, auf dem Feldberg im Östreichischen entspringend, ist als ein immer fortschreitendes und wachsendes Bauermädchen vorgestellt, das, nachdem es eine sehr bedeutende Berggegend durchlaufen hat, endlich in die Ebene kommt und sich zuletzt mit dem Rhein vermählt. Das Detail dieser Wanderung ist außerordentlich artig, geistreich und mannigfaltig und mit vollkommener, sich selbst immer erhöhender Stetigkeit ausgeführt.

Wenden wir von der Erde unser Auge an den Himmel, so finden wir die großen leuchtenden Körper auch als gute, wohlmeinende, ehrliche Landleute. Die Sonne ruht hinter ihren Fensterläden; der Mond, ihr Mann, kommt forschend herauf, ob sie wohl schon zur Ruhe sei, daß er noch eins trinken könne; ihr Sohn, der Morgenstern, steht früher auf als die Mutter, um sein Liebchen aufzusuchen. Hat unser Dichter auf Erden seine Liebesleute vorzustellen, so weiß er etwas Abenteuerliches drein zu mischen, wie im »Hexlein«, etwas Romantisches, wie im »Bettler«.[366] Dann sind sie auch wohl einmal recht freudig beisammen, wie in »Hans und Verene«.

Sehr gern verweilt er bei Gewerb und häuslicher Beschäftigung. »Der zufriedene Landmann«, »Der Schmelzofen«, »Der Schreinergesell« stellen mehr oder weniger eine derbe Wirklichkeit mit heiterer Laune dar. »Die Marktweiber in der Stadt« sind am wenigsten geglückt, da sie beim Ausgebot ihrer ländlichen Ware den Städtern gar zu ernstlich den Text lesen. Wir ersuchen den Verfasser, diesen Gegenstand nochmals vorzunehmen und einer wahrhaft naiven Poesie zu vindizieren.

Jahres- und Tageszeiten gelingen dem Verfasser besonders. Hier kommt ihm zugute, daß er ein vorzügliches Talent hat, die Eigentümlichkeiten der Zustände zu fassen und zu schildern. Nicht allein das Sichtbare daran, sondern das Hörbare, Riechbare, Greifbare und die aus allen sinnlichen Eindrücken zu sammen entspringende Empfindung weiß er sich zuzueignen und wiederzugeben. Dergleichen sind: »Der Winter«, »Der Jänner«, »Der Sommerabend«, vorzüglich aber »Sonntagsfrühe«, ein Gedicht, das zu den besten gehört, die jemals in dieser Art gemacht worden.

Eine gleiche Nähe fühlt der Verfasser zu Pflanzen, zu Tieren. Der Wachstum des Hafers, bei Gelegenheit eines »Habermuses« von einer Mutter ihren Kindern erzählt, ist vortrefflich idyllisch ausgeführt. Den »Storch« wünschten wir vom Verfasser nochmals behandelt und bloß die friedlichen Motive in das Gedicht aufgenommen. »Die Spinne« und »Der Käfer« dagegen sind Stücke, deren schöne Anlage und Ausführung man bewundern muß. Deutet nun der Verfasser in allen genannten Gedichten immer auf Sittlichkeit hin, ist Fleiß, Tätigkeit, Ordnung, Mäßigkeit, Zufriedenheit überall das Wünschenswerte, was die ganze Natur ausspricht, so gibt es noch andere Gedichte, die zwar direkter, aber doch mit großer Anmut der Erfindung und Ausführung, auf eine heitere Weise vom Unsittlichen ab- und zum Sittlichen hinleiten sollen. Dahin[367] rechnen wir den »Wegweiser«, den »Mann im Mond«, »Die Irrlichter«, das »Gespenst an der Kanderer Straße«, von welchem letzten man besonders auch sagen kann, daß in seiner Art nichts Besseres gedacht noch gemacht worden ist. Das Verhältnis von Eltern zu Kindern wird auch von dem Dichter öfters benutzt, um zum Guten und Rechten zärtlicher und dringender hinzuleiten. Hieher gehören »Die Mutter am Christabend«, »Eine Frage«, »Noch eine Frage«. Hat uns nun dergestalt der Dichter mit Heiterkeit durch das Leben geführt, so spricht er nun auch durch die Organe der Bauern und Nachtwächter die höheren Gefühle von Tod, Vergänglichkeit des Irdischen, Dauer des Himmlischen, vom Leben jenseits mit Ernst, ja melancholisch aus. »Auf einem Grabe«, »Wächterruf«, »Der Wächter in der Mitternacht«, »Die Vergänglichkeit« sind Gedichte, in denen der dämmernde, dunkle Zustand glücklich dargestellt wird. Hier scheint die Würde des Gegenstandes den Dichter manchmal aus dem Kreise der Volkspoesie in eine andere Region zu verleiten. Doch sind die Gegenstände, die realen Umgebungen durchaus so schön benutzt, daß man sich immer wieder in den einmal beschriebenen Kreis zurückgezogen fühlt.

Überhaupt hat der Verfasser den Charakter der Volkspoesie darin sehr gut getroffen, daß er durchaus, zarter oder derber, die Nutzanwendung ausspricht. Wenn der höher Gebildete von dem ganzen Kunstwerke die Einwirkung auf sein inneres Ganze erfahren und so in einem höheren Sinne erbaut sein will, so verlangen Menschen auf einer niederen Stufe der Kultur die Nutzanwendung von jedem Einzelnen, um es auch sogleich zum Hausgebrauch benutzen zu können. Der Verfasser hat nach unserem Gefühl das »fabula docet« meist sehr glücklich und mit viel Geschmack angebracht, so daß, indem der Charakter einer Volkspoesie ausgesprochen wird, der ästhetisch Genießende sich nicht verletzt fühlt.[368]

Die höhere Gottheit bleibt bei ihm im Hintergrund der Sterne, und was positive Religion betrifft, so müssen wir gestehen, daß es uns sehr behaglich war, durch ein erzkatholisches Land zu wandern, ohne der Jungfrau Maria und den blutenden Wunden des Heilands auf jedem Schritte zu begegnen. Von Engeln macht der Dichter einen allerliebsten Gebrauch, indem er sie an Menschengeschick und Naturerscheinungen anschließt. Hat nun der Dichter in den bisher erwähnten Stücken durchaus einen glücklichen Blick ins Wirkliche bewährt, so hat er, wie man bald bemerkt, die Hauptmotive der Volksgesinnung und Volkssagen sehr wohl aufzufassen verstanden. Diese schätzenswerte Eigenschaft zeigt sich vorzüglich in zwei Volksmärchen, die er idyllenartig behandelt.

Die erste, »Der Karfunkel«, eine gespensterhafte Sage, stellt einen liederlichen, besonders dem Kartenspiel ergebenen Bauernsohn dar, der unaufhaltsam dem Bösen ins Garn läuft, erst die Seinigen, dann sich zugrunde richtet. Die Fabel mit der ganzen Folge der aus ihr entspringenden Motive ist vortrefflich, und ebenso die Behandlung.

Ein Gleiches kann man von der zweiten, »Der Statthalter von Schopfheim«, sagen. Sie beginnt ernst und ahnungsvoll, fast ließe sich ein tragisches Ende vermuten; allein sie zieht sich sehr geschickt einem glücklichen Ausgang zu. Eigentlich ist es die Geschichte von David und Abigail, in moderne Bauertracht nicht parodiert, sondern verkörpert.

Beide Gedichte, idyllenartig behandelt, bringen ihre Geschichte als von Bauern erzählt dem Hörer entgegen und gewinnen dadurch sehr viel, indem die wackern naiven Erzähler, durch lebhafte Prosopopöien und unmittelbaren Anteil als an etwas Gegenwärtigem, die Lebendigkeit des Vorgetragenen zu erhöhen an der Art haben.

Allen diesen innern guten Eigenschaften kommt die behagliche naive Sprache sehr zustatten. Man findet mehrere[369] sinnlich bedeutende und wohlklingende Worte, teils jenen Gegenden selbst angehörig, teils aus dem Französischen und Italienischen herübergenommen, Worte von einem, von zwei Buchstaben, Abbreviationen, Kontraktionen, viele kurze, leichte Silben, neue Reime, welches, mehr als man glaubt, ein Vorteil für den Dichter ist. Diese Elemente werden durch glückliche Konstruktionen und lebhafte Formen zu einem Stil zusammengedrängt, der zu diesem Zwecke vor unserer Büchersprache große Vorzüge hat.

Möge es doch dem Verfasser gefallen, auf diesem Wege fortzufahren, dabei unsere Erinnerungen über das innere Wesen der Dichtung vielleicht zu beherzigen und auch dem äußeren technischen Teil, besonders seinen reimfreien Versen, noch einige Aufmerksamkeit zu schenken, damit sie immer vollkommener und der Nation angenehmer werden mögen! Denn sosehr zu wünschen ist, daß uns der ganze deutsche Sprachschatz durch ein allgemeines Wörterbuch möge vorgelegt werden, so ist doch die praktische Mitteilung durch Gedichte und Schrift sehr viel schneller und lebendig eingreifender.

Vielleicht könnte man sogar dem Verfasser zu bedenken geben, daß, wie es für eine Nation ein Hauptschritt zur Kultur ist, wenn sie fremde Werke in ihre Sprache übersetzt, es ebenso ein Schritt zur Kultur der einzelnen Provinz sein muß, wenn man ihr Werke derselben Nation in ihrem eigenen Dialekt zu lesen gibt. Versuche doch der Verfasser, aus dem sogenannten Hochdeutschen schickliche Gedichte in seinen oberrheinischen Dialekt zu übersetzen. Haben doch die Italiener ihren Tasso in mehrere Dialekte übersetzt.

Nachdem wir nun die Zufriedenheit, die uns diese kleine Sammlung gewährt, nicht verbergen können, so wünschen wir nur auch, daß jenes Hindernis einer für das mittlere und niedere Deutschland seltsamen Sprech- und Schreibart einigermaßen gehoben werden möge, um der[370] ganzen Nation diesen erfreulichen Genuß zu verschaffen. Dazu gibt es verschiedene Mittel, teils durch Vorlesen, teils durch Annäherung an die gewohnte Schreib- und Sprechweise, wenn jemand von Geschmack das, was ihm aus der Sammlung am besten gefällt, für seinen Kreis umzuschreiben unternimmt, eine kleine Mühe, die in jeder Sozietät großen Gewinn bringen wird. Wir fügen ein Musterstück unserer Anzeige bei und empfehlen nochmals angelegentlich dieses Bändchen allen Freunden des Guten und Schönen.

1 Sonntagsfrühe
Der Samstig het zum Sunntig gseit:
»Jez hani alli schlofe gleit;
sie sin vom Schaffe her und hi
gar sölli müed und schlöfrig gsi,
und's gohtmer schier gar selber so,
i cha fast uf ke Bei meh stoh.«

So seit er, und wo's zwölfi schlacht,
se sinkt er aben in d' Mitternacht.
Der Sunntig seit: »Jez isch's an mir!«
Gar still und heimli bschließt er d' Tür;
er düselet hinter de Sterne no,
und cha schier gar nit obsi cho.

Doch endli ribt er d' Augen us,
er chunnt der Sunn an Tür und Hus;
sie schloft im stille Chämmerli;
er pöpperlet am Lädemli;
er rüeft der Sunne: »d' Zit isch do!«
Sie seit: »I chumm enanderno!« –
[371]
Und lisli uf de Zeche goht
und fründli uf de Berge stoht
der Sunntig, und's schloft alles no;
es sieht und hört en niemes goh;
er chunnt ins Dorf mit stillem Tritt
und winkt im Guhl: »Verrot mi nit!«

Und wemmen endli au verwacht
und gschlofe het die ganzi Nacht,
se stoht er do im Sunne-Schi'
und luegt eim zu de Fenstren i
mit sinen Auge mild und guet
und mittem Meien uffem Huet.

Drum meint er's treu, und was i sag,
es freut en, wemme schlofe mag
und meint, es seig no dunkel Nacht,
wenn d' Sunn am heitere Himmel lacht;
drum isch er au so lisli cho,
drum stoht er au so liebli do.

Wie glitzeret uf Gras und Laub
vom Morgetau der Silberstaub!
Wie weiht e frische Maieluft
voll Chriesi-Bluest und Schleche-Duft!
Und d' Immli sammle flink und frisch,
sie wüsse nit, aß's Sunntig isch.

Wie pranget nit im Garte-Land
der Chriesi-Baum im Maie-Gwand,
Gel-Veieli und Tulipa
und Sterneblume nebe dra,
und gfüllti Zinkli blau und wiiß,
me meint, me lueg ins Paredies!
[372]
Und's isch so still und heimli do,
men isch so rüeihig und so froh!
me hört im Dorf kei »Hüst« und »Hott«;
»e Guete Tag!« und »Dank der Gott!«
und »'s git gottlob e schöne Tag!«
isch alles, was me höre mag.

Und 's Vögeli seit: »Frili jo!
Potz tausig, jo, er isch scho do:
Er dringtmer scho im Himmels-Glast
dur Bluest und Laub in Hurst und Nast!«
Und 's Distelzwigli vorne dra
het 's Sunntig-Röckli au scho a.

Sie lüte weger 's Zeiche scho,
der Pfarer, schint's, well zitli cho.
Gang, brechmer eis Aurikli ab,
verwüschet mer der Staub nit drab,
und Chüngeli, leg di weidli a,
de muesch derno ne Meje ha!
[373]

  • Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Kunsttheoretische Schriften und Übersetzungen [Band 17–22], Band 17, Berlin 1960 ff. S. 364−373 (Digitalisat uf zeno.org)